Irgendwann vor zehn oder zwanzig Jahren muss es passiert sein: ich habe ein paar Minuten verloren. Meine Zeit hat hinter der Zeit der Welt seither einen Rückstand, der nicht mehr aufzuholen ist: die Welt ist immer ums Arschlecken schneller:
Heute ist mein freier Tag! Herrlich! Heute kann ich endlich erledigen, was die ganze Woche liegengeblieben ist: Fenster Putzen, Wäsche waschen, die Lampe im Vorzimmer reparieren und dann diese zwei Schachteln mit alten Geräten aussortieren – ja und dann will ich noch diesen Videoanruf machen, weil ich die Verbindungsqualität testen möchte, ob sie brauchbar ist, für einen Live-Einstieg in der nächsten Frunz-Show.
Ich hab bis Zehn geschlafen! Ach, das passt schon, schließlich bin ich erst um halb drei nach Haus gekommen. Erst einmal gemütlich frühstücken und dabei im Internet die Zeitung lesen.
Ich lege also das Toastbrot mit Schinken und Käse in den Toaster und schalte den Laptop ein. Während er hochfährt, werfe ich die Espressomaschine an. Mist: das Internet geht nicht. Da hat's was mit der Wlan-Verbindung zu meinem Server im Arbeitszimmer. Also checke ich das schnell. Als ich ins Arbeitszimmer komme, sehe ich, dass sich meine Zimmerpflanzen schon ziemlich traurig hängen lassen – na dann werden wir sie rasch gießen, das geht ja schnell. Vielleicht sollte ich noch ein wenig Dünger ins Gießwasser geben?
Als ich im Abstellraum das Regal nach dem Grünpflanzendünger durchsuche, fallen mir diese beiden Kisten ins Auge, die ich heute ja noch ausräumen werde und damit ich's nicht vergess' stell ich sie schon mal ins Vorzimmer. Halt! Was ist das für ein Geruch? Verdammt, der Toast. Toaster ausschalten, Fenster aufreißen... da liegt auch schon der Blumentopf am Boden. Gut, die Erde muss ich gleich wegkehren, sonst verteil ich sie noch in der ganzen Wohnung. Ich gehe zum Kasten, wo ich Besen und Mistschaufel aufbewahre und muss mit Schrecken feststellen, dass ich die Espressomaschine nicht ausgeschaltet habe (das ist so eine Nespresso-Maschine ohne Automatik): der Kaffee rinnt schon auf den Küchenboden.
Ich werde den Wischmop aus dem Abstellraum holen müssen. Aber vorher beseitige ich noch die Blumenerde, kehre sie auf die Schaufel und will sie in den Abfalleimer werfen, wobei ich feststelle, dass dieser randvoll ist. Daher lege ich die Mistschaufel vorsichtig beiseite und entsorge erst einmal den Müll. Leider stehen auf dem Weg durchs dunkle Vorzimmer – wollte ich nicht heut die Lampe reparieren? - diese beiden Kisten am Boden und mich streut es der Länge nach hin. Der Müll verteilt sich zwanglos am Boden des Vorzimmers und macht auch nicht vor der Schwelle des angrenzenden Wohnzimmers halt. Herr, machs gar!
Gut, also den Müll einschaufeln. Aber womit? Die Schaufel ist voll. Und das alles ohne Kaffee! Nein, erst einmal muss ich Kaffee trinken, dann wird zugepackt. Als ich das Wasser in den Tank der Espressomaschine nachfülle, steige ich beiläufig in die mit Erde gefüllte Mistschaufel – das kann mich jetzt aber nicht mehr schockieren, ruhig bleibe ich in der Erde stehen und warte diesmal bis die Kaffeetasse voll ist. Ich muss sowieso den Boden aufwischen, also macht es jetzt nichts mehr, dass Erde an meinem linken Fuß klebt während ich die Tasse neben den Laptop stelle.
Das mit dem Toast ist ein kleines Problem, denn der Toaster ist komplett versaut. Gut, wasch ich die Herausnehmbaren Teile halt schnell ab. Ich lass Wasser in die Spüle laufen, während ich feststelle, dass das Spülmittel aus ist. Aber ich habe ja als guter Hausmann immer eine Ersatzflasche daheim. Die ist im Abstellraum. Slalom durch den Müll in den Abstellraum, ja da steht sie ja! Und gleich daneben der Pflanzendünger! Den nehm' ich auch gleich mit. Und weil ich ja schon wieder so viel Zeit verloren hab, geb ich ihn gleich ins Gießwasser – ich könnte ja auch noch gleich die Pflanzen gießen – das geht ja schnell. Als ich ins Arbeitszimmer komme und am Bildschirm des Servers vorüber gehe, fällt mir diese Fehlermeldung auf: Deswegen geht das Wlan also nicht! Ich klicke die Fehlermeldung weg, versuche ein paar Fenster zu öffnen, um den Status der Verbindung zu sehen – der Kübel reagiert langsam wie eine Schnecke. Ich werde ihn wohl herunterfahren und neu Starten müssen. Aber das dauert, endlich reagiert er... und hängt sich auf. Also hilft nur noch rohe Gewalt in Form eines zweisekündigen Drucks auf den Ausschaltknopf. Na dann warte ich gleich, bis er wieder hochgefahren ist, um das Passwort einzugeben. Nach einigen Minuten ist alles soweit – so, jetzt müsste auch die Internetverbindung vom Laptop wieder funktionieren.
Als ich in die Küche komme und auf den Laptop losstarte, muss ich mich etwas zu steil in die Kurve gelegt haben, denn meine Füße rutschen auf dem vom inzwischen übergelaufenen Spülwasser nassen Boden aus und ich schlage mit dem Kopf gegen die Kaffeetasse, deren Inhalt zielsicher seinen Weg in die Zwischenräume der Laptop-Tastatur findet. Nachdem ich ohne Beachtung meines schmerzenden Kopfes aufgesprungen bin, würge ich den Computer ab, ziehe das Kabel raus und bete, dass die Schaltkreise stromlos sein mögen. Flüssigkeiten schaden dem Gerät nämlich hauptsächlich indem sie Kurzschlüsse verursachen. Ich werde das Ding also auseinander nehmen, reinigen und trocknen müssen, bevor ich es wieder verwenden kann. Also heute kein Video-Call mehr (Weil ich das unbedingt mit dem Laptop machen muss, um Originalbedingungen zu simulieren). Keine Online-Zeitung beim Frühstück – falls ich überhaupt jemals zu einem Frühstück komme.
Gut. Kaffeeversuch die Dritte. Diesmal bewege ich mich keinen Zentimeter weg von diesem Ort – obwohl – das Spülmittel habe ich irgendwo stehen lassen. Das hol ich schnell. Ich finde es neben der Gießkanne. Ob ich es diesmal schaffe, die Blumen zu gießen? Geht ja schnell. Und ich schaffe es. Und ich schaffe es, mit dem Spülmittel zurückzukommen, den Kaffeeautomaten rechtzeitig abzustellen, das Spülmittel ins Wasser zu gießen... warum es nicht schäumt? Ich denke, Blumendünger schäumt eben nicht. Aber wo habe ich dann das Spülmittel hingegossen? Langsam freunde ich mich mit der Vorstellung an, dass Männer auch weinen können dürfen. Aber noch gebe ich mich nicht geschlagen. Ich leere den restlichen Inhalt der Gießkanne in die Spüle und putze die Toaster-Teile. Ich will Toast und ich werde Toast kriegen.
Nur, dass jetzt kein Schinken mehr da ist ist. Ich könnte mir ja auch ein Marmeladebrot streichen, aber ich will nun einmal Schinken. Basta. Ich werde mal kurz in den Supermarkt gehen und welchen kaufen. Aber ich gehe nie aus dem Haus, ohne vorher zu duschen. Das mach ich jetzt. In meinem Bad steht die Waschmaschine und weil ich ohnehin schon so viel Zeit verloren hab, kann ich ja auch gleich die Wäsche reinstopfen. 40° Programm Nummer 2 und los geht's. Dann steige ich unter die Dusche und beschließe, mich zu entspannen – bis ich dieses Geräusch höre: Tok tok tok... das kommt aus der Maschine. Hab ich etwa vergessen, die Taschen meiner Jeans auszuräumen? Etwa das Handy?
Ich springe aus der Dusche, nicht ohne dabei auszurutschen und mit dem Rücken gegen die Armatur zu knallen – das hat weh getan. Ich atme ein paar Sekunden tief durch, dann schalte ich die Maschine ab, warte, bis sich die Tür öffnen lässt und hole das kaputte aber saubere Handy aus der Hose. Ok, das ist heut also nicht mein Tag. Ich trockne mich rasch ab, ohne meinen schmerzenden Rücken zu beachten, schlüpfe schnell in ein Tshirt und in die Hose – nein, in eine trockene natürlich. Dann laufe ich zum Supermarkt.
Dass ich an der Kasse merke, dass ich kein Geld eingesteckt habe, ist mir gar nicht mehr so peinlich, nachdem mich eine besorgte Dame hinter mir auf die Blutflecken am Tshirt aufmerksam macht. Ich komme ohne Schinken nach Hause und ziehe erst einmal das Shirt aus, das bereits schmerzhaft an mir klebt. Dann streiche ich mir ein Marmeladebrot.
Vorsichtig, ohne mit dem Rücken die Sessellehne zu berühren, sitze ich am Küchentisch und rekapituliere den bisherigen Tag, während ich den kalten Kaffee in stiller Verzweiflung schlürfe. Eine Beule am Kopf, zerschundene Knie, ein zerschundener Rücken, ein Kaputter Laptop, ein kaputtes Handy, eine Wohnung voller Müll und eine Wasserlache am Küchenboden, die sich langsam mit Erde und Kaffee mischt. Ich streiche Fensterputzen von meiner Agenda.
Heute werde ich wohl noch die Wohnung sauber kriegen müssen. Dann werde ich den Laptop zerlegen, reinigen, und wieder zusammen bauen und feststellen, dass einige Teile übriggeblieben sind, die eigentlich ganz innen sein sollten. Dann geh ich in mein Stammlokal und esse etwas. Dann werde ich zurückkommen und bemerken, dass ich die Waschmaschine nicht wieder eingeschaltet habe, dass ich für morgen keinen Toastschinken im Kühlschrank habe, dass es im Vorzimmer noch immer finster ist, dass die Schachteln noch immer herumstehen – und dass meine Zimmerpflanzen aus einem unerklärlichen Grund alle eingegangen sind.
Dann werde ich mich aufs Sofa legen und nachdenken, warum ich nichts erledigt habe, obwohl ich den ganzen Tag nur herumgerannt bin, und draufkommen, das alles damit angefangen hat, dass das Wlan nicht gegangen ist. Dann werde ich meiner Freundin eine Mail schreiben wollen, worin ich mich entschuldige, dass ich telefonisch nicht erreichbar bin und gleich darauf werde ich feststellen, dass mein Internet überhaupt nicht geht, also die Wlan-Verbindung gar keinen Fehler gehabt hat.
Ich weiß nicht, irgendetwas läuft falsch, seit ich vor einigen Jahren ein paar Minuten verloren hab.
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